Oscar Sevilla - El Niño

Ein Junge schmuggelt sich ins Peloton
Giro d'Italia 1998. Kelme-Fahrer behaupten gegenüber ihren Rennfahrer-Kollegen: "Das ist ein Junge, der sich ins Feld geschmuggelt hat." Sie meinten damit ihren Stallgefährten Oscar Sevilla, der damals seine erste große Rundfahrt bestritt. Wegen seines Milchgesichtes wird Sevilla "El Niño", also "das Kind", genannt. Genau aus diesem Grunde sollen angeblich einige Giro-Teilnehmer 1998 dem Jux der Kelme-Profis Glauben geschenkt haben.
Lange machte dieser Scherz aber nicht mehr die Runde, auch wenn sich in der Zwischenzeit nichts an Sevillas jugendlichem Aussehen änderte. Denn "El Niño" machte sich schnell durch beachtliche Ergebnisse einen Namen, vor allem dann, wenn es in die Berge ging. Sein damaliger sportlicher Leiter Alvaro Pino hatte ihn zurecht schon 21-jährig ins Profilager geholt, nachdem er als Amateur durch gute Resultate früh auf sich aufmerksam machen konnte.
Beim Giro 1998 stieg Sevilla übrigens nach anderthalb Wochen aus. Gerüchte besagen, dass Pino seinem jungen Schützling nicht gleich im ersten Profi-Jahr eine komplette dreiwöchige Rundfahrt zumuten wollte.

1999: Der Durchbruch im zweiten Profi-Jahr
Schon ein Jahr später beendete Sevilla die Italien-Rundfahrt auf einem respektablen 13. Gesamtrang. Seinen ersten Tagessieg im Profi-Geschäft feierte "El Niño" allerdings schon vor dem Giro bei dem Vorbereitungsrennen Tour de Romandie, immerhin eine Rundfahrt der Ehren-Kategorie. Als sich auf der vierten Etappe nach Veysonnaz die Favoriten um den Gesamtsieg dieser fünftägigen Prüfung in der Schweiz belauerten, nutzte Sevilla die Gunst der Stunde zum Etappensieg.
Im Jahr 2000 stabilisierten sich die Ergebnisse von Oscar Sevilla. Bei seinem 3. Giro d'Italia belegte er nun den 16. Platz, war also wieder unter den Top-20. Im gleichen Jahr noch bestritt er seine erste Spanien-Rundfahrt, konnte am Ende einen 14. Gesamtrang verbuchen und unterstützte seinen Teamkollegen Roberto Heras bei dessen Vuelta-Gesamtsieg als wichtigster Helfer im Gebirge. Obwohl sich nicht die entscheidenden Triumphe einstellten - Sevilla sollte in diesem Herbst noch zwei eher unbedeutende spanische Eintagesrennen gewinnen - feierte die spanische Presse bereits ihren neuen Miguel Indurain. "El Niño" war zu diesem Zeitpunkt 24 Jahre jung.

Die erste Tour: Das erste Mal so richtig im Mittelpunkt
Dass Oscar Sevilla kurz vor der WM 2000 noch ein wohl eher unverbindliches Dopingverfahren wegen eines verdächtig hohen Koffein-Wertes bei einem kleinen Rennen angehängt bekam, ist in Spanien sowieso nicht so wichtig. Doch 2001 war diese Angelegenheit auch für den internationalen Radsport Schnee von gestern, sofern sich überhaupt jemand darum scherte.
Weiß wie Schnee war die Weste des Oscar Sevilla dann bei seiner ersten Tour-de-France-Teilnahme, die in seinem sportlichen Werdegang zu diesem Zeitpunkt folgerichtig war. Denn der Spanier eroberte das weiße Trikot des besten Jungprofis der Frankreich-Rundfahrt 2001 und - was im Prinzip noch viel wichtiger war - er bestätigte die hohen Erwartungen der sogenannten Experten und belegte einen hervorragenden Gesamtplatz 7, womit er noch um einen Rang besser abschnitt als sein kolumbianischer Teamkollege Santiago Botero.
Beide, Botero und Sevilla, waren 2001 die Kapitäne in der Kelme-Mannschaft, weil die bisherigen Top-Leute Heras (zu US Postal) und Escartin (zu COAST) abgesprungen waren. Dies war eine Folge der Geldknappheit bei den Spaniern, denen vor allem der Heras-Transfer viele Dollars an Ablöse in die leeren Kassen spülte. Auch Sevilla strebte jetzt einen Tapetenwechsel an. Trotz der finanziellen Sorgen überredete aber die Kelme-Leitung Sevilla mit einem ordentlich bezahlten Dreijahresvertrag damals zum Bleiben.

Spanien-Rundfahrt 2001: Nur 47 Sekunden am Sieg vorbei
Das hätte sich für das spanische Traditionsteam beim Heimspiel, der 2. Vuelta a España für Sevilla, dann fast mit einem richtig großen Sieg ausgezahlt. "El Niño" rettete seine Tour-Form in den September und übernahm bei dieser Kelme-Vuelta das Leader-Trikot erst von Santiago Botero, dann von Joseba Beloki. Vor dem abschließenden Zeitfahren nach Madrid hatte das Engelsgesicht 25 Sekunden Vorsprung vor dem Gesamtzweiten, Angel Casero von Festina. Dass Casero - bislang von Spöttern als der ewige Zweite tituliert - der stärkere Zeitfahrer gegenüber Sevilla ist, war bekannt. So war es dann auch kein Wunder, als er im Kampf gegen die Uhr "El Niño" noch das Goldtrikot entriss.
Das war ohne Frage bitter für Oscar Sevilla: Nach über 3000 Kilometern nun um nur 47 Sekunden distanziert, und dann auch noch erst auf der letzten Etappe überholt! Egal. Schließlich stand der nun 25-jährige erstmals auf dem Podium bei einer der drei großen Landesrundfahrten. Was stand der großen Karriere jetzt noch im Weg?

Frankreich-Schleife 2002 zum Abhaken
Die Tour de France 2002 war für Oscar Sevilla leider ein Rückschritt. "El Niño" hatte nicht nur dafür trainiert, wieder bei der Vuelta auf dem Podium zu stehen, sondern auch möglichst bei der Tour. Dieses Unternehmen ging aber gründlich in die Hose. Wegen Magenproblemen konnte Sevilla in "seinen" Bergen nicht mit den Größten der Zunft mithalten. Er hatte ohnehin schon in seiner ungeliebten Disziplin Zeitfahren fast drei Minuten auf z.B. Armstrong oder seinen Stallgefährten Botero verloren. Während der 16. Etappe stieg Sevilla auf dem enttäuschenden Gesamtrang 11 liegend aus.
Dabei hatte der Spanier bei dem Vorbereitungsrennen Classique des Alpes eine recht gute Figur gemacht, als er seinen Kelme-Teamkollgenen Santiago Botero, der sich in einer langen Soloflucht aufgerieben hatte, kurz vor Schluss einholte und ihm den Sieg überließ.
Möglicherweise bekam Sevilla nicht besonders gut, dass er schon seit Monaten auf Gehaltszahlungen seiner finanziell angeschlagenen Kelme-Mannschaft wartete und sich dadurch auch Wechselgerüchte um den seinerzeit 25-jährigen rankten. Und das schlug ihm dann anscheinend auf den Magen... Gonzalez,

Pech & Pannen bei der Vuelta
Bei der Vuelta schien Sevilla den ganzen Wirbel zunächst einmal verdaut zu haben. Der Liebling der spanischen Zuschauer präsentierte sich aufmerksam in den Bergen und überraschend stark im ersten Einzelzeitfahren. Die logische Konsequenz: Oscar Sevilla eroberte auf der 6. Etappe hoch nach Sierra de la Pandera das Goldtrikot des Gesamtführenden und verteidigte es auf dem Zeitfahren in Córdoba mit einem hervorragenden zweiten Platz.
Doch da drohte auch schon das Unheil in Form von Aitor Gonzalez: Der Teamkollege von Kelme hatte den Kampf gegen die Uhr für sich entschieden und rückte Sevilla bis auf eine Sekunde in der Gesamtwertung auf die Pelle. Auf der 15. Etappe zum gefürchteten Anglirú (bis zu 23% Steigung) war es dann soweit: Gonzalez fuhr entgegen der Kelme-Teamorder auf eigene Rechnung, attackierte mit dem stärksten Bergfahrer bei der Vuelta, Roberto Heras, im Schlepptau. So hatte Aitor ein Loch zu Oscar gerissen, der offenbar einen schlechten Tag erwischt hatte: Bei strömendem Regen verlor "El Niño" fast drei Minuten auf den Etappensieger und neuen Gesamt-Leader Heras. Gonzalez kam nur 34 Sekunden vor Sevilla ins Ziel, gewann aber aufgrund eines fabelhaften Zeitfahrens in Madrid die Spanien-Rundfahrt 2002 vor Heras.
Sevilla verpasste das Podium wegen Gonzalez' mangelnder Disziplin am Anglirú und zwei Defekten beim abschließenden Zeitfahren und belegte am Ende den vierten Rang. Wahrscheinlich wäre so oder so fraglich gewesen, ob Oscar dem dreifachen Etappensieger Gonzalez hätte in Schach halten können. Nur verbaute Aitor Gonzalez seinem Team-Kollegen offenkundig eine bessere Platzierung, also zumindest Platz 3.
So waren am Ende neun Tage im Goldtrikot Sevillas Ausbeute. Im vorigen Jahr waren es 12 Tage an der Spitzenposition. Das Jahr 2002 - für Oscar Sevilla insgesamt ein Rückschritt.

2003 und 2004 erst recht zum Abhaken
Und in 2003 sollte es nicht besser werden. Im März musste sich Sevilla am Gesäß eine Zyste operativ entfernen lassen. Die Tour de France im Juli konnte der mittlerweile 26-jährige Publikumsliebling der Spanier abschreiben, weil die Operationswunde nur langsam verheilte. Also lenkte er seine volle Konzetration auf die Spanien-Rundfahrt im September. Doch die Pannenserie für Sevilla kannte kein Ende. Ein Sturz in der ersten Vuelta-Woche machte alle Chancen auf eine vordere Platzierung zunichte und es reichte nur zu einem 12. Platz im Endklassement. Immerhin zeigte "El Niño" in den Bergen, dass mit ihm immer noch zu rechnen ist.
Die finanziellen Probleme von Kelme hatten sich indes nicht verflüchtigt. Da traf es sich gut, dass der Schweizer Phonak-Rennstall im Hinblick auf eine Tour-de-France-Einladung für 2004 vielversprechende Verstärkungen suchte. Neben dem US-Amerikaner Tyler Hamilton wurde Sevilla bei den Eidgenossen als zweiter Leader verpflichtet. Um bei der Tour und dann vor allem bei der Vuelta im besten Rennalter wieder glanzvolleren Zeiten entgegenzufahren.
Doch auch daraus wurde nichts. Nach einem vielversprechenden Juni mit Platz 6 beim Alpenklassiker und einem hervorragenden Platz 3 in der Gesamtwertung des Critérium du Dauphiné Libéré war Oscar Sevilla bei Tour und Vuelta weit von seiner Bestform vergangener Tage entfernt. Im Jahr 2005 kommt Oscar Sevilla zum T-Mobile Team nach Deutschland! Hoffentlich nicht als ewiges Talent...

Die wichtigsten Profi-Siege und Sevillas Teams:

1998 - Kelme-Costa Blanca

1999 - Kelme-Costa Blanca
4. Etappe Tour de Romandie (Moudon - Veysonnaz)

2000 - Kelme-Costa Blanca
Trofeo Luis Ocaña
Memorial Manuel Gallera

2001 - Kelme-Costa Blanca

2002 - Kelme-Costa Blanca

2003 - Kelme-Costa Blanca

2004 - Phonak Hearing Systems

2005 - T-Mobile Team

 

Sevilla bei der Tour de France:
2001    7. für Kelme-Costa Blanca
           Bester Jungprofi
2002    -. für Kelme-Costa Blanca
2004   24. für Phonak

 

Sevilla-Seiten im www:
www.oscarsevilla.com (cargando!!!)
www.trap-friis.dk/cykling/spain.Sevilla.htm

Oscar Sevilla Ribera
* 29.09.1976 in Ossa de Montiel (bei Albacete)

Stand: 31.10.2004

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